Aus dem Charisma der hl. Schwester Faustina ging nicht nur eine neue Schule der Spiritualität hervor, sondern auch die Apostolische Bewegung der Barmherzigkeit Gottes, die auf verschiedene Weise ihre Sendung übernimmt, indem sie der Welt durch das Lebenszeugnis, durch Tat, Wort und Gebet die Barmherzigkeit Gottes verkündet.
Die Idee für dieses Werk wurde der Schwester Faustina in Wilna im Jahre 1935 offenbart, als Jesus ihr Seinen Wunsch übermittelte, eine solche Kongregation zu gründen, die die Gottes Barmherzigkeit in der Welt verkünden und sie für die Welt erbitten soll (TB 436). Schwester Faustina war anfangs der Meinung, dass Jesus wünsche, sie solle ihre Mutterkongregation verlassen und ein kontemplatives Kloster gründen, für das sie sogar die Zusammenfassung einer Regel schrieb. Schrittweise erkannte sie jedoch, dass diese Idee nicht darin bestand, eine neue Ordensgemeinschaft oder ein Kloster zu gründen.
Anfang 1936 schrieb sie an ihren Wilnaer Seelenführer Prof. Michał Sopoćko: Ich sehe deutlich, dass es nicht nur eine weibliche und eine männliche Ordensgemeinschaft sein wird, sondern dass es ein großer Verein von Laien sein wird, dem alle angehören können. Indem sie einander Barmherzigkeit erweisen, können sie durch die Tat an die Barmherzigkeit Gottes erinnern. Mögen Ihnen diese Gedanken nicht als Tollheit erscheinen, Pater, denn sie sind nichts als die Wahrheit, die in Kürze in die Tat umgesetzt werden wird, und selbst wenn ich niemanden hätte, der für dieses Werk wäre, würde ich mich durch nichts abschrecken lassen, denn es genügt mir, dass ich weiß, dass es der Wille Gottes ist. Sie war weiterhin der Meinung, dass es um die Stiftung eines neuen Klosters gehe. Die Verwirklichung dieser Aufgabe ging mit dem außergewöhnlich schmerzhaften Erlebnis passiver Nächte des Geistes (des Verstandes und des Willens) einher und führte Schwester Faustina zur völligen Vereinigung mit Jesus, zur sog. mystischen Verlobung und Vermählung. Danach erkannte sie eindeutig in einer mystischen Erfahrung, dass obwohl das Werk eins ist, es jedoch in drei Abstufungen besteht. Die erste bilden kontemplative Klöster, [die] abgeschieden von der Welt, als Opfer vor Gottes Thron brennen und Gottes Barmherzigkeit für die ganze Welt erbitten werden … Sie werden um Segen für die Priester bitten und durch ihr Gebet die Welt auf die endgültige Wiederkunft Jesu vorbereiten (TB 1155). Die zweite Stufe bilden tätige Ordensgemeinschaften, die das Gebet mit barmherzigen Taten verbinden und in der egoistischen Welt die erbarmende Liebe Gottes vergegenwärtigen (TB 1156). Der dritten Stufe können alle Menschen angehören, die nicht durch ein Gelübde gebunden sind und die durch Barmherzigkeit, die sie den Nächsten aus Liebe zu Jesus täglich durch Tat, Wort und Gebet erweisen, die Aufgaben dieses Werkes erfüllen. Ein Mitglied dieser Stufe – schrieb Schwester Faustina – sollte im Laufe des Tages zumindest eine Tat der Barmherzigkeit vollbringen, es können auch viele sein. Das ist für jeden leicht auszuführen (TB 1158).
Die Umstände der Entstehung der Apostolischen Bewegung der Barmherzigkeit Gottes
Um der Welt die Botschaft der Barmherzigkeit zu verkünden, inspirierte Gott in der Kirche ein Werk, das aus der mystischen Erfahrung und aus dem Charisma der hl. Schwester Faustina hervorgeht und das wir heute als Apostolische Bewegung der Barmherzigkeit Gottes bezeichnen. Der Zweck dieses Werkes wurde ihr nicht von Anfang an in aller Klarheit geoffenbart, sondern reifte langsam heran, wobei er verschiedene Entwicklungsphasen durchmachte: von der Gründung einer neuen kontemplativen Kongregation bis zur Festlegung der Strukturen einer Bewegung, an der Klausurorden, tätige Kongregationen und Laien Anteil haben.
Die Anfänge der Idee zu diesem Werke reichen in das Jahr 1935 zurück. Schwester Faustina war damals im Haus der Kongregation in Wilna. Sie erfreute sich der Gabe der Kontemplation, eines tiefen Lebens mit Gott und auch der teilweisen Erfüllung der Wünsche Jesu, denn Sein Bild war bereits gemalt und am ersten Sonntag nach Ostern, vom 26.-28. April 1935, zum ersten Mal im Ostra Brama-Tor während der feierlichen Beendigung des Jubiläums der Erlösung der Welt öffentlich verehrt worden. Ihre Freude wurde jedoch von einem Vorgefühl neuer Aufgaben getrübt. Ich [war] über ihre Größe erschrocken – notierte sie im Tagebuch – [und meinte] zur Vollendung dieses Werkes nicht fähig zu sein (TB 429). Da hörte sie die Worte Jesu: Du wirst die Welt auf Meine endgültige Wiederkunft vorbereiten. Diese Worte durchdrangen mich zutiefst – schrieb sie weiter in ihrem Seelentagebuch – obwohl ich tat, als hätte ich sie nicht gehört, doch ich verstand sie wohl und hegte hierzu keinerlei Zweifel (TB 429).
Am Pfingstsonntag, am 9. Juni 1935 übermittelte ihr Jesus die nächste Anweisung, dieses Mal in Form einer konkreten Aufgabe: Du wirst gemeinsam mit deinen Mitschwestern Barmherzigkeit für euch selbst und für die Welt erbitten (TB 435). Bis zu dieser Zeit hatte sie das Charisma der Kongregation erfüllt und sich vor allem um Mädchen und Frauen gekümmert, die einer tiefen moralischen Erneuerung bedurften, kein Wunder, dass sie diese Worte Jesu als Anweisung verstand, eine neue Kongregation zu gründen, deren Ziel es sein sollte, die Barmherzigkeit Gottes für die ganze Welt zu erbitten.
Weil sie nicht sicher war, ob sie die Absicht des Herrn gut verstanden hatte und weil sie nicht den ausdrücklichen Auftrag hatte, über diese konkrete Angelegenheit mit ihrem Beichtvater zu sprechen, schwieg sie zwanzig Tage lang über diesen Wunsch Jesu. Erst am 29. Juni, als sie von Prof. Michał Sopoćko zu einem Gespräch provoziert wurde, offenbarte sie ihm ihr Geheimnis. Das Geheimnis ist dies – notierte sie im Tagebuch – dass Gott eine Ordensgemeinschaft verlangt, die Gottes Barmherzigkeit in der Welt verkünden und sie für die Welt erbitten soll (TB 436). Während dieses Gesprächs versicherte Jesus, der so auf der Türschwelle des Zimmers stand, wie Er auf dem Bild gemalt ist, Schwester Faustina: Ich wünsche, dass eine solche Ordensgemeinschaft besteht (TB 437). Sie fühlte sich in jeder Hinsicht zur Erfüllung dieser Aufgabe unfähig, deshalb wehrte sie sich davor, sie zu übernehmen: Es ist sonderbar – notierte sie – dass Jesus mein Rufen nicht beachtet hat. Er erteilte mir Erleuchtung und Erkenntnis, wie lieb Ihm dieses Werk ist. Er rechnete meine Schwachheit überhaupt nicht mit ein und gab mir zu erkennen, wie viele Schwierigkeiten ich zu überwinden habe (TB 437).
Am Tag nach diesem Gespräch mit Prof. Michał Sopoćko, am 30. Juni 1935, sah Schwester Faustina während der hl. Messe abermals Jesus, der ihr sagte, dass Er wünsche, dass die Ordensgemeinschaft so schnell wie möglich gegründet wird (TB 438), und dann ihren Geist bestimmte, der darin besteht, Ihm von der Krippe angefangen bis zum Sterben nachzueifern und die Aufgabe zu erfüllen, die Barmherzigkeit Gottes zu verkünden und für die ganze Welt zu erbitten (TB 438). Nach dem Empfang der heiligen Kommunion erlebte Schwester Faustina in mystischer Weise die Gegenwart und den Segen der Heiligen Dreifaltigkeit, woraufhin die bisherigen Ängste und Besorgnisse, die Schwäche und Ratlosigkeit gegenüber dieser Aufgabe wichen. Als ich wieder zu mir kam – notierte sie – spürte ich Kraft und Mut, den Willen Gottes zu tun. Nichts erschien mir schwierig (TB 439). Das sind die Umstände der Entstehung der Apostolischen Bewegung der Barmherzigkeit Gottes. Ihr Schöpfer und Initiator ist Jesus selbst, der Seiner „Sekretärin” den Ratschluss der Entstehung einer solchen „Kongregation” enthüllte, also einer Bewegung, deren Mitglieder Ihm „von der Krippe angefangen bis zum Sterben” nacheifern und die Barmherzigkeit Gottes verkünden und für die ganze Welt erbitten werden. In diesen ersten Offenbarungen bestimmte Jesus die Rahmenbedingungen dieses Werkes, seine Spiritualität sowie die Richtung des apostolischen Engagements, dem Er eine eschatologische Perspektive gab: die Vorbereitung der Welt auf Seine erneute Wiederkunft.
Die Entwicklung der Idee der Apostolischen Bewegung der Barmherzigkeit Gottes
Die Gestalt des neuen Werkes, die sich so in den ersten Offenbarungen abzeichnete, verstand Schwester Faustina eindeutig: als Auftrag, ein kontemplatives Kloster zu gründen. Nicht einmal die Worte des hl. Ignatius, den sie um Hilfe bei der Erfüllung dieses Vorhabens Gottes bat, dass die Regel (…) sich auch in dieser Ordensgemeinschaft anwenden [lässt] (TB 448), änderten ihre Denkweise. Sie war weiterhin der Meinung, dass es um die Stiftung eines neuen Klosters gehe, das sich völlig den Aufgaben widmen würde, um die Jesus bat. Sie sah damals weder die Möglichkeit, diese Aufgabe in der eigenen Kongregation zu verwirklichen noch auf irgendeine andere Weise.
Ende November/Anfang Dezember 1936 schrieb sie die Zusammenfassung einer Regel für ein kontemplatives Kloster, deren Entwurf sich auf die Konstitutionen ihrer Mutterkongregation stützte. Sie führte dort die Forderungen Jesu bezüglich der Aufgaben und des Wesens der neuen Kongregation auf, außerdem bemühte sie sich, die ihrer Meinung nach wichtigeren Regeln zu bestimmen, die sich auf die Auswahl der Mitglieder, die Abschnitte der klösterlichen Ausbildung, das Gebet, die Buße, das gemeinschaftliche Leben, das Apostolat und die Verwaltung bezogen. Schon bei der ersten Lektüre dieses Entwurfs von Konstitutionen springt die Radikalität ins Auge, die sich in der Auswahl der Mitglieder, in der Praxis des kontemplativen Ordenslebens, in Entsagung und strenger Buße sowie im inbrünstigen apostolischen Einsatz für die Erlösung der Seelen zeigt.
Im März 1936 verließ Schwester Faustina Wilna und reiste zuerst nach Walendów und Derdy, später nach Krakau. Bereits aus Walendów, im April 1936, schrieb sie an ihren Wilnaer Beichtvater und Seelenführer, Prof. Michał Sopoćko: Ich sehe deutlich, dass es nicht nur eine weibliche und eine männliche Ordensgemeinschaft sein wird, sondern dass es ein großer Verein von Laien sein wird, dem alle angehören können. Indem sie einander Barmherzigkeit erweisen, können sie durch die Tat an die Barmherzigkeit Gottes erinnern. Sie hörte daher nicht auf, in dieser Sache zu beten und nach Möglichkeiten zu suchen, den Willen Gottes zu erfüllen. Sie sprach mit den Beichtvätern, den Vorgesetzten, vor allem aber opferte sie zu diesem Zweck das ungeheuer große Leiden der passiven Nächte des Geistes auf. Sie wünschte nur eines: den Ratschluss Gottes in Bezug auf dieses Werk deutlich zu erkennen und in diesem Werk das zu erfüllen, was Gott von ihr erwartete.
Schließlich schrieb sie unter dem Datum des 27. April 1937, dass Gott ihr während der heiligen Messe Erleuchtung und eine tiefe Erkenntnis dieses Werkes zuteil werden ließ, indem Er jeden Schatten des Zweifels aus ihrer Seele ausräumte (TB 1154). Das Werk ist eins – notierte sie – aber gewissermaßen in drei Abstufungen. Die erste sind Seelen, [die] abgeschieden von der Welt, als Opfer vor Gottes Thron brennen und Gottes Barmherzigkeit für die ganze Welt erbitten werden … Sie werden um Segen für die Priester bitten und durch ihr Gebet die Welt auf die endgültige Wiederkunft Jesu vorbereiten (TB 1155).
Die zweite Stufe werden Ordensgemeinschaften bilden, die das Gebet mit barmherzigen Taten verbinden. Sie werden insbesondere die Seelen der Kinder vor dem Bösen schützen. Gebet und Barmherzigkeit schließt alles ein, was diese Seelen ausüben sollen. (…) Sie werden sich bemühen, in der egoistischen Welt Liebe zu erwecken, die Barmherzigkeit Jesu [zu verkünden] (TB 1156). Der dritten Stufe können alle in der Welt lebenden Menschen angehören (TB 1157), die nicht durch ein Gelübde gebunden sind, die für Gebet und die Ausführung [der Barmherzigkeit] Anteil an allen Verdiensten des Ganzen haben werden (TB 1157). Ein Mitglied dieser Stufe sollte im Laufe des Tage zumindest eine Tat der Barmherzigkeit vollbringen, es können auch viele sein. Das ist für jeden leicht auszuführen, sogar für den Allerärmsten (TB 1158).
Erst im Kontext dieses so verstandenen Werkes, das eines ist, aber in drei Abstufungen, lässt sich erklären, warum die Visionen der Schwester Faustina, was die Lokalisierung der künftigen Kongregation anbelangt, so stark voneinander abweichen. Einmal sah sie eine nicht sehr große Kirche und daneben ein Kloster mit zwölf Zellen (TB 563), ein andermal die Mauern eines Gebäudes ohne Fenster und Türen (TB 559), in einer weiteren Vision – eine Kapelle, in der Prof. Michał Sopoćko sechs Schwestern die heilige Kommunion spendete (TB 613), dann wieder ein Kloster, das sich um Kinder im Alter von fünf bis elf Jahren kümmerte und sie so vor dem Bösen beschützte (TB 765). Noch ein anderes Mal sah sie ein Kloster, in dem alles sehr arm und bescheiden war, in dem jedoch ein großer Geist herrschte (TB 892). In der letzten Vision, die mit diesem Thema verbunden war, sah Schwester Faustina, als sie das Kloster des neuen Ordens besichtigte, ausgedehnte, große Räume. Die Personen, die in dem Kloster lebten, waren vorläufig in ziviler Kleidung, aber insgesamt herrschte ein vollkommen klösterlicher Geist (TB 1154). Diese letzte Vision ging unmittelbar der vollständigen Aufzeichnung der Struktur dieses einzigen Werkes voran, an dem kontemplative Klöster teilnehmen, Personen aus verschiedenen Instituten des geweihten Lebens und alle anderen, die sich durch Gebet und Tat für Jesu Werk der Barmherzigkeit einsetzen.
Mit der Eintragung im Tagebuch, die vom 27. Juni 1937 stammt, endet die Entwicklung der Idee der Apostolischen Bewegung der Barmherzigkeit Gottes, die in den Äußerungen Jesu von Anfang an – als Bewegung – sehr breit begriffen wurde, aber in der Vorstellung der Schwester Faustina allmählich reifte und sich von einem geschlossenen kontemplativen Kloster über eine tätige Kongregation bis hin zur Einbeziehung von Laien in dieses Werk entwickelte.
An dieser Stelle bedarf es noch einer begrifflichen Klärung. Anzumerken ist nämlich, dass in den Schriften der Schwester Faustina kein einziges Mal das Wort „Bewegung” auftaucht, sondern „Kongregation” oder „Werk”. Das Wort „Kongregation” verwenden sowohl Jesus als auch Schwester Faustina, aber jeder von ihnen versteht diesen Begriff anders.
Die meisten Menschen, darunter auch Schwester Faustina, verstanden unter dem Wort „Kongregation” eine Ordensgemeinschaft. Deshalb verstand sie die Worte Christi Ich wünsche, dass eine solche Ordensgemeinschaft besteht (TB 437) oder dass die Ordensgemeinschaft so schnell wie möglich gegründet wird (TB 438) wörtlich. Sie meinte folglich, dass Jesus wünsche, dass eine neue Kongregation gegründet werde, die die Barmherzigkeit Gottes verkünden und sie für die Welt erbitten werde. Dann schrieb sie, dass dieser „Kongregation” auch Personen mit verschiedenen Berufungen angehören sollen, Frauen und Männer, ja sogar alle in der Welt lebenden Menschen. Diese Verschiedenartigkeit der Berufungen verweist auf eine andere Bedeutung dieser Bezeichnung, nämlich auf den biblischen Sinn, der dem hebräischen „qahal” entspricht, das Jesus im Gespräch mit Schwester Faustina verwendete.
Das hebräische „qahal” bedeutet laut dem Lexikon der biblischen Theologie „eine Versammlung zu religiösen, meist kultischen Zwecken”. Jene sakrale „Versammlung” lässt sich mit Hilfe folgender Bestimmungsmerkmale charakterisieren:
- diese Versammlung verdankt ihre Existenz dem „Aufruf” bzw. der Berufung durch Gott;
- sie versammelt sich um das Zelt der Begegnung oder im Sanktuarium in der Überzeugung, dass Gott in ihrer Mitte wohnt;
- Gott offenbart dem versammelten Volk Seinen Willen und bringt ihn durch Theophanie oder einen bevollmächtigten Vertreter zum Ausdruck;
- die Gemeinschaft versammelt sich zu religiösen Zwecken, zu Bitt- oder Bußgebeten und wird von Gott nach und nach geheiligt.
Es ist unschwer zu bemerken, dass all diese Bestimmungsmerkmale des biblischen Begriffes „Versammlung” in den Äußerungen Jesu auftauchen, die im Tagebuch der hl. Schwester Faustina notiert wurden. So ist die Apostolische Bewegung der Barmherzigkeit Gottes in den Äußerungen Jesu gleichsam eine neu berufene Gemeinschaft, ein neues „Zusammenrufen” des Gottesvolkes, das in diesem Abschnitt der Geschichte den von Gott beabsichtigten Zweck und genau festgelegte Aufgaben erfüllen soll, nämlich die Wiedergeburt des religiösen Lebens sowie die Verkündigung des Geheimnisses der Barmherzigkeit Gottes und ihr Erbitten für die ganze Welt. Es lohnt, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass dies die Aufgaben sind, vor die der Heilige Vater Johannes Paul II. in der Enzyklika Dives in misericordia die ganze Kirche stellte.
Verwirklichungsversuche der Idee der Apostolischen Bewegung der Barmherzigkeit Gottes
Für Schwester Faustina war es das Wichtigste im Leben, den Willen Gottes treu zu erfüllen. Alle Wünsche Jesu schilderte sie ihren Beichtvätern und Vorgesetzten, und dann strebte sie konsequent und ausdauernd nach ihrer Verwirklichung, ohne Rücksicht auf Strapazen, Widerwärtigkeiten und Leiden. So war es auch bei der Verwirklichung der Idee der Apostolischen Bewegung der Barmherzigkeit Gottes, die aus ihrer Sicht nach darin bestand, eine neue Ordensgemeinschaft zu gründen, wozu sie sich sogar dann verpflichtet fühlte, als sie erkannte, dass dieses Werk auch männliche und weibliche Ordens-gemeinschaften sowie ein großer Verein von Laien verwirklichen werden. Sie war der Meinung, dass ihre Rolle bei der Verwirklichung dieses Werkes ebendarin bestehen würde, ein kontemplatives Kloster zu gründen, das sich voll und ganz der Erfüllung der von Jesus übermittelten Aufgaben hingeben würde.
Im September 1935 schilderte sie diese Angelegenheit dem Bischof der Diözese Wilna, dem Erzbischof Romuald Jałbrzykowski, der den Gedanken an das Verlassen der Mutterkongregation als schwere Versuchung betrachtete und empfahl, die Aufgabe, die Barmherzigkeit Gottes für die Welt, insbesondere für die Sünder zu erbitten, im eigenen Kloster zu erfüllen (TB 473). Wappne dich mit großer Geduld – sagte er zu Schwester Faustina – Wenn diese Dinge von Gott sind, werden sie früher oder später zum Ziel gelangen (TB 473, 479).
Im Oktober 1935 fuhr Schwester Faustina zu achttägigen Exerzitien nach Krakau. Sie hatte damals die Gelegenheit, sich in dieser Sache mit Pater Józef Andrasz SI zu beraten, der ihr noch vor den ewigen Gelübden versichert hatte, dass die Erfahrungen, die sie in ihrer Seele erlebte, von Gott stammen. Der Krakauer Beichtvater gestand auch dieses Mal ein, dass er in dem ganzen Unternehmen keine Täuschung oder Widersprüche zum Glauben [sähe]. Es sind Dinge, die in sich selbst gut sind und es wäre sogar gut, wenn es eine Gruppe von Seelen gäbe, die Gott für die Welt bitten, denn Gebet brauchen wir alle (TB 506), aber gleichzeitig empfahl er große Vorsicht, völlige Abhängigkeit im Handeln von den Vorgesetzten sowie Gebet, um diesen Ratschluss Gottes deutlicher zu erkennen (TB 506).
Nach der Abfahrt der Schwester Faustina aus Wilna setzte sich Prof. Michał Sopoćko für diese Sache mehr ein, indem er sich um die Genehmigung des Erzbischofs Romuald Jałbrzykowski und um die Schaffung entsprechender Bedingungen für die Gründung eines neuen Klosters bemühte. Er ergründete alles und riet weiterhin an der Übereinstimmung mit dem Willen Gottes zu arbeiten, große Vorsicht haben und trotz des großen inneren Drängens zur Tat Langsamkeit walten zu lassen. Bei der Beurteilung seiner Schritte und Bemühungen gab Prof. Michał Sopoćko ehrlich zu: Vorläufig sehe ich keinerlei Fortschritt, was das Schaffen von Bedingungen für jene Kongregation anbelangt, aber ich verliere nicht die Hoffnung und tue, was ich kann.
Auch Schwester Faustina tat, was sie nur konnte. Sie sprach mit der Mutter Generaloberin und mit der Krakauer Oberin, von denen sie Freiheit im Handeln, im Kontakt mit Personen und in der Korrespondenz erhielt. Sie sprach über dieses Thema viel mit Pater Józef Andrasz, von dem sie konkrete Entscheidungen erwartete. Als die Generaloberin, Mutter Michaela Moraczewska, Anfang Mai 1937 das Krakauer Haus visitierte, nutzte Schwester Faustina die Gelegenheit und bat darum, aus der Kongregation austreten zu dürfen. Die Mutter Generaloberin hatte vorher nicht die Erlaubnis dazu gegeben, weil sie Angst hatte, dass es sich um eine Täuschung handeln könnte. Sie bat Gott jedoch um ein Zeichen, an dem sie erkennen könne, dass diese Sache Seinem Willen entspricht. Sie war der Meinung, dass der Gedanke großartig und schön ist, dass jedoch die Rolle der Schwester Faustina einer verborgenen Feder ähneln werde und dass diese daher nicht unbedingt aus der Kongregation austreten müsse. Als Schwester Faustina folglich am 4. Mai 1937 mit der Mutter Generaloberin über ihren Austritt aus dem Kloster sprach, bekam sie zur Antwort: Bisher habe ich Sie, Schwester, immer zurückgehalten, doch jetzt gebe ich Ihnen die Freiheit; wie Sie wollen, Schwester. Sie können den Orden verlassen und Sie können, wenn Sie es wollen, bleiben (TB 1115). Schwester Faustina entschied, dass sie dieses Mal aus der Kongregation austreten und eine Bittschrift an den Heiligen Vater richten werde, sie von den Gelübden zu befreien. Dann wollte sie nach Wilna fahren, um dort die neue Ordensgemeinschaft zu gründen. Als sie jedoch das Zimmer der Mutter Generaloberin verließ, kam in ihre Seele wieder irgendeine Dunkelheit. Es ist sonderbar – bemerkte sie – so oft ich um das Ausscheiden bitte, wird meine Seele von solcher Dunkelheit erfasst und ich habe das Gefühl, als wäre ich mir selbst überlassen. In dieser geistigen Qual beschloss ich, sofort zur Mutter zu gehen und ihr meine sonderbaren Qualen und Kämpfe vorzutragen. Die Mutter entgegnete darauf: „Ihr Ausscheiden, Schwester, ist eine Versuchung (TB 1115). Und der Beichtvater befand: Vielleicht ist das nicht der von Gott bestimmte Augenblick. Man muss beten und geduldig ausharren (TB 1117).
Nach diesem erneuten und letzten Versuch, die Kongregation zu verlassen, schrieb Schwester Faustina: Meine Qualen wird niemand begreifen noch verstehen. Ich selbst kann sie nicht beschreiben; kein Leiden kann größer sein. Die Leiden der Märtyrer sind nicht größer; der Tod brächte mir in diesen Augenblicken Linderung. Ich vermag diese Leiden mit nichts zu vergleichen – dieses nie endende Sterben der Seele (TB 1116).
Trotz so vieler Schwierigkeiten und Misserfolge war Schwester Faustina jedoch tief davon überzeugt, dass es der eindeutige Wille Gottes war, dass dieses Werk entstehen sollte. Sie wusste, dass Gott (…) manches Mal in Seinem unergründlichen Urteil [zulässt], dass jene, die in einem Werk die größten Schwierigkeiten trugen, sich hier auf Erden an dessen Früchten nicht mehr erfreuen. Die ganze Freude bewahrt Gott für die Ewigkeit (TB 1402). An Prof. Michał Sopoćko schrieb sie, dass Gott mit dem zufrieden ist, was schon gemacht worden sei. Die Schwierigkeiten und der Widerstand gegen dieses Werk sind nur eine Prüfung (…), aber niemals (…) ein Beweis, dass das Werk Gott nicht lieb ist. Sie zog sich in den Hintergrund zurück und unternahm keine äußeren Handlungen mehr, aber sie war sich dessen bewusst, dass Gott durch sie Sein Werk begonnen hatte. Im letzten Brief an ihren Wilnaer Seelenführer schrieb sie: Was (…) die neue Ordensgemeinschaft anbelangt, habe ich nicht den geringsten Zweifel, dass dies der eindeutige Wille Gottes ist. Durch uns hat Gott Sein Werk begonnen, wer es beendet, sollen wir nicht erforschen, sondern jetzt das tun, was in unserer Macht steht, nichts mehr.
Die Verwirklichungsversuche dieser Idee gingen mit dem außergewöhnlich schmerzhaften Erlebnis passiver Nächte des Geistes einher. Diese führten Schwester Faustina auf die Gipfelpunkte der Mystik und erlaubten ihr, die Gründung einer Apostolischen Bewegung der Barmherzigkeit Gottes auf geistiger Ebene zu verwirklichen, um das Fundament für den Bau dieses Werkes in der Kirche zu legen. Jesus ging es folglich nicht darum, dass Schwester Faustina tatsächlich eine neue Ordensgemeinschaft gründen sollte, wenn Er dies – trotz aller Anstrengungen und trotz ihres Verlangens, den Willen Gottes zu erfüllen – nicht zuließ. Es ging vielmehr darum, in ihr ein vollkommenes Vorbild für alle Apostel der Barmherzigkeit Gottes zu gestalten, ein Vorbild grenzenlosen Vertrauens zu Gott und der Barmherzigkeit gegenüber den Nächsten, ein Vorbild dafür, wie man durch Leben und Wort das Geheimnis der Barmherzigkeit Gottes verkünden und sie für die Welt erbitten soll. Ein solcher Schluss scheint auch durch die Tatsache bestätigt zu werden, dass sie nach dem tapferen Ertragen der leidvollen passiven Nacht, als ihr nach dem Fest der Barmherzigkeit 1938 die Gnade völliger Freiheit des Geistes zuteil wurde und sie die letzte Gestalt des Werkes niedergeschrieben hatte, später zu dieser Angelegenheit nicht mehr zurückkehrte. Sie starb im Gefühl, ihre Pflicht gut erfüllt zu haben. Ihrem Wilnaer Beichtvater sagte sie während des letzten Gesprächs einige Wochen vor ihrem Tod, dass er sich hauptsächlich um den Kult der Barmherzigkeit Gottes bemühen und sich nicht allzu sehr um die neue Ordensgemeinschaft kümmern solle, denn er werde erkennen wer was in dieser Sache tun solle.
Auszug aus dem Buch von Sr. M. Elżbieta Siepak ISMM: Die neue „Kongregation” der Schwester Faustina. Die Apostolische Bewegung der Barmherzigkeit Gottes, Krakau 2007.
Bearbeitet von Sr. M. Koleta Fronckowiak ISMM