Wenn wir von christlicher Barmherzigkeit sprechen, denken wir an Handlungen, die sittlich gut sind. Die Theologie beschreibt nicht nur die menschlichen Handlungen, sondern gibt auch Kriterien zu ihrer sittlichen Beurteilung. Die Handlung (auch der menschliche Gedanke) spielt im Leben jedes Menschen eine außergewöhnlich wichtige Rolle, weil sie den Menschen formt, seine Persönlichkeit und die Haltungen bildet, die Entwicklung des geistigen Lebens beeinflusst oder – im Gegenteil – die Person erniedrigt, degradiert, ihre Entwicklung als Mensch und Christ bremst. Diese Handlungen drücken aus, wer der betreffende Mensch ist, sie entscheiden über sein Gutsein oder seine Schlechtigkeit, sie offenbaren seine Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit mit dem Bild des Sohnes Gottes. Jede Handlung hinterlässt im Menschen eine Spur, vermehrt oder verringert das Gute, deshalb sind die menschlichen Wahlakte, Entscheidungen und sein Handeln so überaus wichtig.
Jesus machte das in sittlicher Hinsicht gute Handeln des Menschen zur Voraussetzung dafür, dass der Mensch in das Himmelreich eingeht. Er stufte es höher ein als Prophezeiungen und Wunder, die in Seinem Namen getan wurden. Er sprach: Nicht jeder, der zu Mir sagt: Herr, Herr! wird in das Himmelreich kommen, sondern nur, wer den Willen Meines Vaters im Himmel erfüllt (Mt 7, 21), also gute Taten gemäß dem Willen Gottes vollbringt. Noch stärker klingt Sein Aufruf zu guten Taten in der Szene des Jüngsten Gerichts. Nur diejenigen, die sie aus Liebe zu Ihm vollbracht haben, werden das Himmelreich in Besitz nehmen. Die Übrigen fragten verwundert: Herr, wann haben wir Dich hungrig oder durstig oder obdachlos oder nackt oder krank oder im Gefängnis gesehen und haben Dir nicht geholfen? Darauf wird Er ihnen antworten: Amen, Ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch Mir nicht getan. Und sie werden weggehen und die ewige Strafe erhalten, die Gerechten aber das ewige Leben (Mt 25, 44-46).
Die moralische Beurteilung des (vernünftigen und freiheitlichen) menschlichen Handelns geschieht zuerst im Gewissen. In ihm entdeckt der Mensch ein Gesetz, das er sich nicht selbst gibt, sondern dem er gehorchen muss und dessen Stimme ihn immer zur Liebe und zum Tun des Guten und zur Unterlassung des Bösen anruft und, wo nötig, in den Ohren des Herzens tönt: Tu dies, meide jenes. Das Gewissen zeigt den sittlichen Wert des menschlichen Handelns und zwar mit der Kraft einer Autorität, die tadelt oder ein Gefühl der Zufriedenheit gibt. Daher ist die Entstehung der Stimme des Gewissens und seines autoritativen Charakters letztlich in Gott zu sehen, in Seiner Stimme, die sich an jeden Mensch individuell richtet. Das II. Vatikanische Konzil spricht vom Gewissen als der „verborgensten Mitte und dem Heiligtum”, in dem Gott dem Menschen begegnet. Wenn es heißt, dass das Gewissen der Ort ist, an dem der Dialog Gottes mit dem Menschen stattfindet, dass in ihm „die Stimme Gottes ertönt”, dann ist nur ein solches Gewissen gemeint, das gut gebildet ist, entsprechend der Wahrheit des Gesetzes Gottes und eine universale und objektive Norm der Sittlichkeit darstellt. Das Gewissen schafft nämlich nicht in autonomer Weise eigene sittliche Normen, sondern ergründet objektive sittliche Normen und passt sie an konkrete Handlungen im Leben des Menschen an. Es reicht nicht aus zu sagen, dass man seinem Gewissen entsprechend handelt, man muss hinzufügen – das entsprechend dem objektiven Sittengesetz gebildet wurde.
Die Kriterien des moralischen Urteils
Die menschlichen Handlungen, das heißt die bewussten und freien Entscheidungen und Handlungen des Menschen können in moralischer Hinsicht als gut oder böse qualifiziert werden. Der sittliche Charakter der menschlichen Handlungen hängt ab:
– vom gewählten Objekt;
– vom angestrebten Ziel oder von der Absicht;
– von den Umständen der Handlung.
Das Objekt, die Absicht und die Umstände bilden die Quellen oder wesentlichen Elemente der Sittlichkeit menschlicher Handlungen (KKK 1750), es sind Kriterien, in deren Licht wir beurteilen können, ob die menschlichen Handlungen gut oder schlecht sind.
1. Das Objekt
Das vorrangige und entscheidende Element für das moralische Urteil ist das Objekt der menschlichen Handlung, das darüber entscheidet, ob sie auf das Gute und auf das letzte Ziel, das Gott ist, hingeordnet werden kann (VS 79). Das Objekt der Handlung ist ein objektiver Wert, auf das irgendein Handeln bereits in sich, von Natur aus eingestellt ist. Das Objekt des Gebets ist beispielsweise der Lobpreis Gottes, das Gebet zielt also von Natur aus darauf, Gott Ehre zu erweisen; der Zweck der Lüge ist es, denjenigen, der sie hört, irrezuführen usw.
Das Objekt einer Handlung kann gut, böse oder gleichgültig sein, je nachdem, ob es mit den objektiven sittlichen Normen übereinstimmt oder nicht. Eine im Hinblick auf ihr Objekt gute Handlung ist eine solche, die dem wirklichen Wohl der Person entspricht (das die objektiven Normen der Sittlichkeit bestimmen) und auf das letzte Ziel des Menschen hingeordnet ist, also auf Gott selbst. Die Kirche lehrt auch das Bestehen „in sich schlechter” Handlungen, sie sind „irreparabel” schlechte Handlungen, die an und für sich und in sich nicht auf Gott und auf das Gut der menschlichen Person hinzuordnen sind (VS 81). Diese Handlungen sind im Hinblick auf ihr Objekt immer schlecht, unabhängig von der Absicht der handelnden Person und den Umständen. Das II. Vatikanische Konzil nennt in der Konstitution Gaudium et spes eine lange Liste solcher Taten: Was (…) zum Leben selbst in Gegensatz steht, wie jede Art Mord, Völkermord, Abtreibung, Euthanasie und auch der freiwillige Selbstmord; was immer die Unantastbarkeit der menschlichen Person verletzt, wie Verstümmelung, körperliche oder seelische Folter und der Versuch, psychischen Zwang auszuüben; was immer die menschliche Würde angreift, wie unmenschliche Lebensbedingungen, willkürliche Verhaftung, Verschleppung, Sklaverei, Prostitution, Mädchenhandel und Handel mit Jugendlichen, sodann auch unwürdige Arbeitsbedingungen, bei denen der Arbeiter als bloßes Erwerbsmittel und nicht als freie und verantwortliche Person behandelt wird: all diese und andere ähnliche Taten sind an sich schon eine Schande (27).
Heutzutage versucht man viele dieser Handlungen, die im Hinblick auf ihr Objekt schlecht sind, mit Freiheit, einer guten Absicht oder falsch verstandener Barmherzigkeit zu entschuldigen. Ein Beispiel: Euthanasie steht im Widerspruch zur biblischen Wahrheit über das Wohl des Menschen, die in den Geboten Gottes enthalten ist. Einen unheilbar Kranken zu töten, ist eine Handlung, die objektiv schlecht ist, denn das Töten eines Menschen ist etwas Böses. Wenn der Gegenstand einer Handlung schlecht ist, dann wird die Handlung niemals gut sein, sie wird keine Barmherzigkeit sein, auch wenn Tausende von Menschen sie so nennen sollten und dabei versuchten, ihren Standpunkt mit dem „scheinbaren Wohl” oder sogar mit „Barmherzigkeit” gegenüber Kranken, Alten („sie müssen sich nicht quälen”, „jetzt leiden sie nicht mehr”, „sie haben das Recht auf einen würdigen Tod”) zu begründen. Bei einer solchen Denkweise kann weder von einer guten Handlung die Rede sein noch von wahrer christlicher Barmherzigkeit, denn die Wahrheit über Gott und den Menschen, die Wahrheit über das Geheimnis der Schöpfung und das Ziel des menschlichen Lebens wurde nicht beachtet. Gott und die Wahrheit, die Er dem Menschen gegeben hat, wurden übergangen.
„Wer würde es im Hinblick auf die Handlungen, die durch sich selbst Sünden sind – schreibt der hl. Augustinus -, wie Diebstahl, Unzucht, Gotteslästerung, zu behaupten wagen, sie wären, wenn sie aus guten Motiven vollbracht würden, nicht mehr Sünden oder, eine noch absurdere Schlussfolgerung, sie wären gerechtfertigte Sünden?” Und dennoch sind heutzutage, wo das Empfinden für das Böse und die Sünde verschwindet, weil die Menschheit von Gott entfernt ist und das Gewissen betäubt wird, oftmals Stimmen zu vernehmen, die versuchen, die objektive Wertordnung umzukehren und das Böse gut zu nennen (Euthanasie, Abtreibung, Homosexualität usw.). Aber weder die Umstände noch die Absichten können einen bereits in sich durch sein Objekt sittenlosen Akt in einen „subjektiv” sittlichen oder als Wahl vertretbaren Akt verwandeln (VS 81).
Und schließlich gibt es Handlungen, die im Hinblick auf ihr Objekt gleichgültig sind, das heißt weder gut noch schlecht, denen die Absicht oder die Umstände einen sittlichen Wert verleihen. Das Objekt einer Handlung kann in sittlicher Hinsicht gleichgültig sein, aber die Handlung selbst nicht. Ein Spaziergang ist beispielsweise in sittlicher Hinsicht gleichgültig, wird er jedoch unternommen, um etwas für die eigene Gesundheit oder die eines Schutzbefohlenen zu tun, dann ist es eine sittlich gute Handlung. Das Essen oder Trinken an sich ist aus sittlicher Sicht gleichgültig, aber der Missbrauch von Speisen und Trank unter bestimmten Umständen ist eine sittlich schlechte Handlung.
2. Die Absicht
Sie ist ein wesentliches Element bei der moralischen Bewertung menschlicher Handlungen. Sie ist die Ausrichtung des menschlichen Willens auf ein Ziel und betrifft das Ende eines Handelns. Die Absicht [ist] dann gut, wenn sie auf das wahre Gut der Person im Blick auf ihr letztes Ziel gerichtet ist (VS 82). (…) Die Absicht bewirkt, dass eine Tätigkeit, die im Hinblick auf ihr Objekt gleichgültig ist, zu einer guten oder schlechten Handlung wird (ein Besuch bei Bekannten, der deshalb abgestattet wird, um ihnen Freude zu machen, Glückwünsche und Trost sind z. B. eine gute Handlung, wenn ihnen aber die Absicht zugrunde liegt, einen Streit hervorzurufen, dann haben wir es mit einer schlechten Handlung zu tun). Ein an sich gutes Handeln wird durch die jeweilige Absicht mehr oder weniger gut (z. B. der „Witwengroschen”) oder schlecht (Gebet oder Almosen sind z. B. objektiv gut, will man sich jedoch damit brüsten, dann ist es eine schlechte Handlung). Ein an sich falsches Handeln wird durch die Absicht weniger schlecht, aber niemals gut (vgl. KKK 1753). Hier gilt der eiserne Grundsatz: Der Zweck rechtfertigt die Mittel nicht. Das menschliche Handeln kann also nicht allein deshalb als sittlich gut bewertet werden – erinnert Papst Johannes Paul II. an diese Lehre der Kirche – weil es dazu dienlich ist, dieses oder jenes verfolgte Ziel zu erreichen, oder einfach weil die Absicht des Handelnden gut ist (VS 72).
3. Die Umstände
Die Umstände, einschließlich der Folgen, sind zweitrangige Elemente einer sittlichen Handlung (KKK 1754). Die Umstände können die sittliche Güte oder Schlechtigkeit menschlicher Handlungen steigern oder abschwächen. Ein Diebstahl in einem Geschäft ist beispielsweise ein geringeres Übel als in einer Kirche, denn Letzteres ist ein Sakrileg; versäumt man die heilige Messe krankheitshalber, wird das anders beurteilt als aufgrund eines Ausflugs oder eines anderen Umstands.
Die Umstände können auch bewirken, dass eine im Hinblick auf ihr Objekt gleichgültige Handlung zu einer guten oder schlechten wird, dass eine an sich gute Handlung besser oder schlecht wird (z. B. ein Gebet, das auf Kosten der Pflichten verrichtet wird); aber eine im Hinblick auf ihr Objekt schlechte Handlung wird durch die Umstände niemals zu einer gut (eine Lüge in irgendeiner Situation wird z. B. niemals zu einer gerechtfertigten und in sittlicher Hinsicht guten Handlung). Die Umstände können an sich die sittliche Beschaffenheit der Handlungen selbst nicht ändern; sie können eine in sich schlechte Handlung nicht zu etwas Gutem und Gerechtem machen (KKK 1754).
Bei der Beurteilung des sittlichen Werts einer Handlung sind sieben Umstände zu berücksichtigen, die eine Antwort auf die folgenden, grundlegenden Fragen geben: Wer? Was? Wo? Wann? Wie? Auf welche Weise? Warum? Der letzte Umstand entspricht in meritorischer Hinsicht der Absicht. Wichtig ist die Situation der Person, die die Tat ausführt, was im Falle des Ärgernisses gut sichtbar ist: es ist umso größer, je wichtiger die gesellschaftliche Funktion der Person ist, die die Sünde begeht. Einem Kind gibt beispielsweise der eigene Vater ein größeres Ärgernis als ein Schulkamerad, der Priester ein größeres als ein Laie. Einfluss auf den sittlichen Wert einer Handlung haben auch die Zeitund Ortsumstände (z. B. ein Vergnügen im normalen Alltag und während der Fastenzeit; das Fasten am Freitag oder an anderen Wochentagen).
Ein wichtiger Fehler in der heutigen Zeit ist der Situationismus, der behauptet, dass die Situation bzw. die Umstände der ausgeführten Handlungen darüber entscheiden, ob sie gut oder schlecht sind. In vielen Fällen rechtfertigt man unter bestimmten Bedingungen schlechte Handlungen, indem man behauptet, dass sie zu guten werden. Man hört oft: das sind die Zeiten von heute – alle stehlen, dann darf ich es auch; oder alle lügen, dann ist nichts Böses dabei, wenn ich auch nicht die Wahrheit sage, wohingegen die Umstände die bewusste Verwirklichung des Guten entsprechend den sittlichen Normen vergrößern sollen.
(…) Eine Handlung muss, um ein Akt der Barmherzigkeit zu sein, sittlich gut sein, d. h. mit der Wahrheit der Gebote Gottes völlig übereinstimmen. Wiederholen wir noch einmal: sowohl das Objekt der Handlung als auch die Absicht und die Umstände müssen gut sein. Eine Handlung ist sittlich gut, wenn diese Elemente mit dem Willen Gottes, der dem Menschen im Sittengesetz geoffenbart wurde, übereinstimmen und somit auch mit dem letzten Ziel des Menschen. Wenn die menschlichen Handlungen die Anforderungen des Gesetzes Gottes erfüllen und zum letzten Ziel führen, dann sind sie als gut zu betrachten; sie sind jedoch schlecht, wenn sie von den Geboten abweichen und das Erreichen des letzten Ziels vereiteln. Wenn unsere Handlungen Taten der Barmherzigkeit sein sollen, dann müssen sie auf das wahre Wohl der Person zielen, das in den Geboten enthalten ist und somit die freiwillige Hinordnung auf das letzte Ziel, d. h. auf Gott selbst zum Ausdruck bringen. Es geht darum, dass das, was wir für unsere Nächsten tun, nicht nur der subjektiven Wahrheit über das Gute entspringt, sondern das wahre Wohl der Person im Blick hat, sich also auf die objektive, universale Wahrheit des Gesetzes Gottes gründet, das ein Verhalten verbietet, welches dem irdischen und ewigen Wohl eines jeden Menschen widerspricht. Es geht darum, dass die erwiesene Barmherzigkeit Liebe zur Person bedeutet, dass man ihr wahres Wohl liebt.
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Voller Text: Kongregation der Schwestern der Muttergottes der Barmherzigkeit: Der sittliche Wert menschlicher Hadlungen, in: Die Schönheit und der Reichtum der Barmherzigkeit.
Misericordia-Verlag, Kraków 2004, S. 42-62.
Übersetzt von Sabine Lipińska
Barmherzigkeit/Barmherzigkeit in den zwischenmenschlichen Beziehungen